Grußwort zum 20jährigen Jubiläum

Grußwort von Staatsrätin Jana Schiedek anlässlich der Verleihung der Medaille für treue Arbeit im Dienste des Volkes in Bronze an die Sütterlinstube e.V. am 29. März 2017, 15.00 Uhr im Hamburg-Museum

Sehr geehrter Herr Witte,
liebe Mitglieder der Sütterlinstube,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

„Tradition heißt nicht, Asche zu bewachen, sondern die Glut anzufachen“, hat der amerikanische Staatsmann Benjamin Franklin einmal gesagt. Im Moment werden wir mit klugen Gedanken aus Übersee nicht gerade verwöhnt, umso mehr kann man mit diesem Zitat anfangen. Denn Tradition ist nicht rückwärtsgewandt, sondern hat immer das Weiterkommen und das Morgen im Blick. Sich zu versichern, wer man ist und wo man herkommt, ist ein Grundthema der Literatur von Goethes „Wilhelm Meister“ bis Christa Wolfs „Kindheitsmuster“: „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen“, heißt es dort. 

Doch man braucht eigentlich gar nicht in die Literaturgeschichte zu schauen, oft reicht ein Blick in die private Fotoschatulle oder die Familienalben. Natürlich, man erkennt die Eltern, an ihrem Hochzeitstag, bei Feiern mit Freunden, bei ihrer Einschulung. Man erkennt auch die Großeltern, die dazugehörigen Geschichten hat man oft genug gehört. Doch schon in der Generation der Urgroßeltern hat man oft Mühe auszumachen, wer auf den Fotos abgebildet ist, ist sich über Familienbeziehungen und die Erlebnisse der Vorfahren nicht mehr im Klaren. Und ganz ähnlich wie mit den Fotos verhält es sich mit der Schrift: Schriften, gerade Handschriften, haben immer auch etwas mit Emotion und Individualität zu tun. 

Einst galt die Handschrift gar als „Spiegel der Seele“. Und was kann man nicht aus einem Schriftbild alles erkennen: Eile, Stress und Ärger, aber auch Sorgfalt, Nähe und, ja, Respekt. Einen handgeschriebenen Brief zu bekommen, ist heutzutage ein bedeutsames Ereignis, das viel zu selten eintritt. Heute wissen viele von ihren Freunden eher, welche Emojis sie in ihren Kurznachrichten bevorzugen, als wie eine handgeschriebene Notiz von ihnen aussieht. Es soll Menschen geben, die erst nach Monaten herausgefunden haben, wer ihnen da einen Urlaubspostkarte hat zukommen lassen: Sie haben die Handschrift nicht erkannt. In der „Neuen Zürcher Zeitung“ wurde vor ein paar Tagen ein besonders düsteres Bild gezeichnet, von „Kulturverlust“ in unserer digitalen Welt war da die Rede, vom „sekundären Alphabetismus“, weil die Handschrift aus dem Alltag verschwindet, weil die Schrift generell vom Aussterben bedroht und als „Auslaufmodell sprachlicher Kommunikation“ erscheint. 

Und in der Tat hat meine Generation mit der Installation eines Betriebssystems auf ihren Rechnern, mit der Bedienung ihrer iPhones oder der digitalen Navigation in einer Service-Hotline weit weniger Probleme als damit, eine Postkarte ihrer Großeltern zu entziffern, wenn sie denn in Sütterlin oder Kurrent geschrieben ist. Und hier kommt dann die großartige Idee zum Tragen, die vor über 20 Jahren zur Gründung der Sütterlinstube geführt hat: Welchen Wissensvorsprung, welche Kompetenzen haben ältere Menschen, die in der jüngeren Generation nicht mehr vorhanden sind? Welche Fähigkeiten drohen in unserer Gesellschaft verloren zu gehen? 

Der Grundgedanke der Sütterlinstube basiert auf gegenseitiger Hilfe, auf dem Austausch von Potentialen, auf der Kenntnis und dem Anwenden von Wissen und Tradition. 

Die Sütterlinstube setzt aber auch auf ein lebendiges Geschichtsinteresse und den Anspruch, dass aus Alltagsgeschichten eine vergangene Welt rekonstruiert werden kann – egal, ob es sich um die Tagebücher eines Bordmusikers auf Weltreise zwischen 1892 und 1894, die Kindheitserinnerungen eines Mecklenburger Bauernsohnes, die Vorlesungsmitschriften eines Mediziners aus dem Jahr 1831 oder um den Augenzeugenbericht der Schlacht von Waterloo von 1815 handelt. Mittlerweile hat diese in Deutschland einzigartige Institution längst Kundschaft aus aller Welt. Von den Vereinigten Staaten über Brasilien, Israel und Kanada bis hin nach Südafrika kommen Anfragen, weil Menschen die Korrespondenz oder die Tagebücher ihrer Vorfahren nicht entziffern können oder weil Wissenschaftler Hilfestellung bei der Übertragung historischer Dokumente benötigen. 

Als Staatsrätin der Kulturbehörde bin ich auch für Medien zuständig. Und könnte mich also fragen, ob es nicht auch effektiv wäre, ein computerbasiertes Übersetzungsprogramm für Sütterlin zu entwickeln. Doch die Experten sagen mir, so einfach ist das nicht, denn schon das Übersichtsblatt, das uns die Sütterlinstube als Information an die Hand gegeben hat, zeigt, wie vielfältig die Interpretationsweisen der Buchstaben der jeweiligen Schreiber sind, Sütterlin ist nicht gleich Sütterlin: Da gibt es Ligaturen, Abkürzungen und individuelle Schreibweisen, bei denen einem schnell ein Zitat des großen Mark Twain in den Sinn kommt: „Mir tut jeder Mensch leid, der nicht so viel Phantasie hat, ein Wort mal so, mal so zu schreiben.“

Gerade unsere digitale Welt braucht Entschleunigung, Nachdenken und Bewahren. Ich bin nicht hier, um Sie, meine Damen und Herren, in aller Ausführlichkeit über die großartige Arbeit der Sütterlinstube zu informieren, das wird Herr Witte im Anschluss viel präziser und kenntnisreicher übernehmen. 

Aber lassen Sie mich dennoch einige Zahlen nennen: Das älteste Mitglied der Sütterlinstube ist 90 Jahre alt. Insgesamt arbeiten derzeit 35 Frauen und Männer an der Übertragung der Texte. Über 400 Aufträge wurden im vergangenen Jahr angenommen und in 6.200 Arbeitsstunden bearbeitet. Übrigens gänzlich auf freiwilliger Spendenbasis. In den vergangenen vier Jahren wurden auf diese Weise sage und schreibe 100.000 Euro eingenommen, die der Förderung der Altenpflege und der Förderung von Kunst und Kultur zu Gute kommen. Ich habe gehört, dass auch das Finanzamt schon öfter die Ohren gespitzt hat, ob der hohen Beträge, die im Altenheim Ansgar zusammengekommen sind.

Sprache wird durch Schrift erst schön“, hat der bekannte Grafiker und Schriftgestalter Erik Spiekermann einmal gesagt, und diesen Gedanken möchte ich den Mitgliedern der Sütterlinstube als Dank und Ansporn für ihre weitere Arbeit mit auf den Weg geben. Aber es soll nicht bei diesem Satz bleiben, denn ich habe noch eine Überraschung für Sie: Der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg hat beschlossen, die Sütterlinstube e.V. mit der Medaille für treue Arbeit im Dienste des Volkes in Bronze auszuzeichnen. Die nächste Überraschung: Die Verleihung findet hier und jetzt statt, deshalb bitte ich Herrn Erich Witte, den Ersten Vorsitzenden der Sütterlinstube, zu mir nach vorne, um die Medaille und die Urkunde entgegenzunehmen.

Lieber Herr Witte, stellvertretend für alle Mitglieder der Sütterlinstube danke ich Ihnen sehr herzlich für Ihre wichtige Arbeit und beglückwünsche Sie im Namen der Freien und Hansestadt Hamburg zu dieser schönen und sehr verdienten Ehrung. Herzlichen Glückwunsch!