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Berliner Morgenpost

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  • vom 18. Juli 2012

DIE VERGESSENE SCHRIFT
Viele Familienschriften sind in Sütterlin geschrieben. Doch heute kann kaum noch jemand die Schnörkel entziffern

Vergessene_Schrift

Puzzlearbeit: Karin Splittgerber hat die Briefe ihres
Vaters gesammelt und erklärt ihrer Enkelin Luise, was
in ihnen steht                         Foto: Massimo Rodari

Von Annette Kuhn
Berlin
- Der Keller war für die kleine Karin immer ein spannender Ort gewesen. Hier roch es nach Vergangenheit, hier erzählte Gerümpel Geschichten aus einer anderen Zeit. Die Zehnjährige stöberte gern zwischen den alten Möbeln und verstaubten Kisten herum. Und auf einmal sah sie diese Mappe. In ihr waren Blätter, vollgeschrieben in einer Schrift, die ihr fremd war. Aufgeregt lief das Mädchen zu seiner Mutter, doch die wollte die Mappe am liebsten verschwinden lassen. Aber bevor die Blätter im Müll landen konnten, gab Karin sie ihrem Großvater und deutete auf die ihr unbekannten Schriftzeichen. Sütterlin sei das, erklärte der Opa. Es waren Briefe und Unterlagen ihres Vaters, zu dem die Familie keinen Kontakt mehr hatte. "Über den Inhalt der Dokumente erfuhr ich da noch nichts", erinnert sich Karin Splittgerber heute, 63 Jahre später. Und bald geriet der Fund in Vergessenheit, landete wieder im Keller. Karin Splittgerber heiratete, bekam fünf Kinder, arbeitete als Grundschullehrerin. Erst als sie in Rente gegangen war, nahm sie sich die Mappe wieder vor. Inzwischen roch sie so moderig, "dass wir erst einmal alle Blätter im Garten ausgelegt haben. Natürlich immer bewacht, damit keines wegweht", erzählt die 73-Jährige aus Treptow. Und dann ging es ans Entziffern. Mit Sütterlin-Tabelle und ihrem zehn Jahre älteren Mann, der die Schrift noch in der Schule gelernt hatte. Nächtelang Briefe entschlüsselt Karin Splittgerber erfuhr, dass ihr Vater eine wichtige Funktion in der NSDAP gehabt haben muss und daher für seine Hochzeit 1938 Kirchen und Standesämter anschreiben musste, um einen "Ariernachweis" über sechs Generationen erbringen zu können. Es war zunächst ein Schock für die Tochter. Doch ihr Interesse für die Geschichte ihrer Familie, das mit dem Fund im Keller einmal geweckt war, war stärker. Nächtelang hat sie die Briefe und Ahnentafeln entschlüsselt. Ihr Ziel ist es, all ihren Kindern zu deren 50. Geburtstag ein Ahnenbuch der Familie zu schreiben. Gerade sitzt sie am dritten. Wie Karin Splittgerber geht es heute vielen Menschen, die alte Briefe und Urkunden ihrer Großeltern oder Urgroßeltern haben, diese aber nicht lesen können, weil sie Sütterlin oder die noch ältere Kurrentschrift nicht mehr kennen. 1911 wurde Sütterlin von dem Pädagogen und Grafiker Ludwig Sütterlin entwickelt, 1915 zunächst in Preußen eingeführt, in den folgenden Jahren als Schulschiff in allen deutschen Ländern etabliert. Doch die Schrift hielt sich nicht lange. Schon 1941 wurde Sütterlin in den Schulen als Alltagsschrift verboten und durch die schnörkellosere, noch heute gebräuchliche Lateinschrift ersetzt. Sütterlin stand ab dann höchstens noch wenige Stunden in der Grundschule auf dem Lehrplan. Nur wer heute jenseits der 80 ist, hat Sütterlin noch in der Schule gelernt. Es ist eine Frage der Zeit, bis diese Menschen nicht mehr am Leben oder nicht mehr in der Lage sind, ihr Wissen weiterzugeben und einen Schlüssel für die Vielzahl an Dokumenten der Familiengeschichte zu geben. Für Peter Hohn ist das ein Alarmzeichen. Er leitet die Sütterlinstube in Hamburg, die älteste von insgesamt fünf in Deutschland: "Wenn nicht bald etwas passiert, werden die vielen Briefe, Tagebücher und Urkunden zur ,Schrankware', sie können nur noch verstauben." Damit es nicht so weit kommt, übertragen er und 30 andere ehrenamtliche Mitarbeiter Dokumente in Sütterlin- oder Kurrentschrift ins Lateinische. Etwa 150 Aufträge haben sie im Jahr - von der einzelnen Urkunde bis zum dicken Tagebuch. Oft seien es erschütternde Dokumente, erzählt Peter Hohn. Aufzeichnungen von Juden aus dem KZ, Briefe von jungen Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg, die ihre Kameraden haben fallen sehen. Einblicke in zerstörte Leben. Aber es gibt auch die schöne Seite, zum Beispiel die anrührenden Liebesbriefe vom Uropa an die Uroma. Die Idee zur Sütterlinstube entstand auf einem Dachboden. Dort fand der Leiter eines Hamburger Altenheims 1996 Briefe in Kurrentschrift, die er nicht lesen konnte. "Da hat er sich gedacht: Meine Leutchen müssten das doch können", erzählt Hohn. Für diesen Gedanken schätzt Hohn den Mann noch heute: "Da hat mal einer gefragt, was die Alten können und nicht, was sie nicht können." Für die Heimbewohner war es ein Leichtes, die Schriftstücke zu lesen. Und so entstand der gemeinnützige Verein Sütterlinstube. Den Namen mag Hohn, der den Verein seit 2001 leitet, eigentlich nicht: Es gehe ja gar nicht nur um Sütterlin, sondern auch um die älteren Kurrentschriften. Und "Stube" klingt ihm außerdem zu altmodisch. Dabei sei der Gedanke, dass ältere Menschen jüngeren helfen, dass ihre Kenntnisse gebraucht werden, doch sehr modern. Alte Schriften lesen zu können ist eine Fähigkeit, die ausstirbt oder bald nur noch an den Universitäten weitergegeben wird. Für den Laien sei es fast unmöglich, die handgeschriebenen Aufzeichnungen mithilfe einer Tabelle zu entziffern. Oft hätten die Menschen Kurrent und Sütterlin, später auch noch lateinische Schrift miteinander vermischt. Dann gebe es auch immer wieder Ausdrücke, die heute so gar nicht mehr oder nur in einem anderen Kontext gebräuchlich sind. Hohn erinnert sich noch an Dokumente zu einer Hochzeit, in denen immer von "Copulation" die Rede war. Die Kollegin, die die Texte übertragen hatte, sei aus dem Lachen gar nicht mehr herausgekommen. "Und viele Leute hatten eine Sauklaue", sagt Hohn lachend, das sei damals nicht anders gewesen als heute. So sei mancher Text selbst für ihn, der Sütterlin von seiner Mutter gelernt hat, eine Herausforderung. Trotzdem hat Karin Splittgerber es geschafft und sich durch all die Briefe ihres Vaters durchgebissen - "allerdings hat mir mein Mann dabei auch viel geholfen", gibt sie zu. Und sie ist froh darum, mehr über die Vergangenheit ihres Vaters erfahren zu haben - selbst wenn sie diese Vergangenheit erst einmal verdauen musste. Darum kann sie nur jedem empfehlen, sich auf die Spuren der Ahnen zu machen. Dies sei eine Bereicherung für das eigene Leben. Damit das möglich ist, hofft Peter Hohn darauf, dass das Wissen um alte Schriften weiter gepflegt wird - und dass sich mehr Sütterlinstuben in Deutschland gründen. Ihn wundert es, dass es noch keine entsprechende Einrichtung in Berlin gibt. Dabei sei das ein ideales Pflaster: Hier gebe es mehrere Senioren-Computer-Clubs, mit deren Hilfe eine Vernetzung und eine Internetpräsenz aufgebaut werden könnte, und Berlin atme wie keine andere Stadt an jeder Ecke Geschichte.

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