Hatten wir nicht alle gehofft, dass nie wieder das passiert, von dem so
unendlich viele Zeugnisse uns bedrückend genau erzählen? Hatten wir nicht
gehofft, es möge nie wieder passieren, dass Familienväter - oder schlimmer noch:
Kinder - in Uniformen gesteckt würden, mit einem Dienstgrad belegt, mit einem
perfiden Gehorsamseid gebunden und dann mit effektiven Tötungswaffen in die
Schlacht geschickt?
Mit Waffen „made in germany“, verschifft aus unserem schönen Hafen, wo wir
nebenan an den Landungsbrücken flanieren, unseren Gästen die Schönheit der Elbe
zeigen - da verlässt modernste Kriegstechnologie unsere Stadt.
Hatten wir nicht gehofft, es würden nie wieder millionenfach Köpfe verdreht und
unter Schutzhelme gesteckt? Und doch, Anno 2014, zähle ich - mindestens - 12
kriegerische Auseinandersetzungen. Die Bilder kommen jeden Abend in unsere
Zimmer, flimmern in Räume, in deren Umgebung - wenigstens hier und zumindest
äußerlich - Friede sein darf, und das seit 69 Jahren, Gott sei Dank. Wie anders
so all überall...:
Afghanistan, Irak, Syrien, Nordkaukasus, Mali, Zentralafrika, Somalia, Sudan,
Kongo, Nigeria, Ukraine und Gaza...
Zerschossene Häuser im Gaza, durch die ein Palästinenser irrt. Und gleich
daneben das Bild eines israelischen Soldaten, der sich weinend von seiner
Familie trennen muss, um in diesen verdammten Krieg zu ziehen.
Und immer wieder:
Ein Ehemann, ein Sohn, ein Vater, ein Bruder, ein Freund, ein Großvater kehrt
nicht zurück. Ist im Felde geblieben. Bekam eine Uniform, feld-grau,
ununterscheidbar im Grau des Feldes, im Morgen-Grauen (im morgendlichen Grauen
der Offensive). Und dann bleibt ein Kreuz, vielleicht, auf einem der ungezählten
Friedhöfe auf dieser Erde.
Aus der Erde sind wir gekommen. Zur Erde sollen wir wieder werden. Er wird
wieder zur Erde der Mensch, der Erden Wurm mit Goebbels Schnauze oder
Menuhin-Geige, mit Einstein-Formel oder von Brauns V2, mit Bachs Orgel oder
Stalin-Orgeln... Der aus der Erde genommene, aus dem Humus gekommene ist zur
„Humanitas“ - zur wahren Menschlichkeit berufen und fähig.
Das Feld der Ehre - das wäre das Feld der Ähren, das Erntefeld der Sensen, damit
Leben gelingt und genährt werden kann - und nicht dem vorzeitigen Sensenmann zum
Opfer fällt, der junge Leben im Auftrage bestens abgesicherten Befehlsgeber
niedermäht. Die machen nur die Sprüche, aber sie zahlen nie die Zeche.
Von „Schlacht-Feldern“ sprechen wir, Räume, auf denen sonst das Korn wächst, die
Blumen und der Wein. Das Lebensfeld wird zum Totenfeld. Verschüttetes Leben,
vergossenes Blut schreit zum Himmel. Hören wir den Schrei noch?
Wo kein menschliches Ohr mehr ihn vernimmt, da hört Gott und er fragt uns: „Wo
ist dein Bruder?“
Da, wo es zu spät ist, wo er nun tot ist, der Menschenbruder - wenigstens ein
Grab für ihn. Doch, oft genug irritierend: Die Gräberfelder erinnern an die
vormaligen Schlachtfelder. In Reih' und Glied marschiert, später geordnete
Gräber in Reihen, sodass ich aufpassen muss, sie nicht abzuschreiten.
Meine Geste muss eine Andere sein: Die des Runterbeugens, damit ich den
Einzelnen wahrnehme und mir vergegenwärtige, dass das, was auf dem Gräberfeld in
Reihen liegt, kreuz und quer auf dem Schlachtfeld zerstreut war.
Was sagen uns Zahlen - 10 Millionen im Ersten und 55 Millionen Kriegstote im
Zweiten Weltkrieg? Greifbarer wird uns der Tod, wo der einzelne Name eines Toten
aufscheint. So wie wir heute Anteil bekamen an zwei Schicksalen - durch die
Übertragungsarbeit unserer Sütterliner wieder lesbar gemacht.
Was Ihr da tut, ist, was sonst Gottes Tat allein bliebe: Den unauslöschbaren
Namen eines Menschen entziffern und wach erhalten!
* * * * *
Als ich dreizehn Jahre alt war, flog ich mit dem Jugendchor des Hamburger Michel
das erste Mal nach Kreta. Während unserer Zeit auf der griechischen Insel fuhren
wir an einem wunderschönen Tag von Kastelli nach Maleme. Dort ist ein
Soldatenfriedhof, auf dem über 4.500 deutsche Soldaten begraben sind. Sie kamen
ums Leben, bei dem wahnsinnigen Versuch, die Insel aus der Luft einzunehmen.
Bevor unser Gottesdienst auf dem Gräberfeld begann, ging ich mit meinen Freunden
durch die Gräberreihen. Wir lasen die Namen. Und wir nahmen die Geburts- und
Sterbedaten wahr. Nicht wenige, die kaum ein paar Jahre älter wurden, als wir es
damals waren. Junge Männer von vielleicht 20, 22 Jahren. Soviel ungelebtes
Leben, soviel sinnloses Leid. So viele kleine weiße Kreuze.
Was konnten wir anders tun, als singen: „Verleih uns Frieden gnädiglich“ -
vertont von Heinrich Schütz, geschrieben 1648, am Ende des Dreißigjährigen
Krieges, als die Menschen schon einmal die Hoffnung hatten, dieser Krieg müsste
doch ein für allemal der letzte gewesen sein. … Und wie bald schon war diese
Hoffnung zunichte gemacht - zerschossen und kaputt gebombt.
In den Tagen darauf besuchten wir ein kretisches Bergdorf. Dort hatten die
deutschen Besatzer dann alle männlichen Bewohner umgebracht. Es gab, man fasst
das nicht, den Befehl, für jeden getöteten deutschen Soldaten zehn griechische
Männer zu exekutieren.
Und wir? Wir sangen wieder - mit zugeschnürten Stimmbändern - „Verleih uns
Frieden“. Das knüpft an, an den erlösenden Ruf, den himmlischen Zuspruch an uns:
„Friede auf Erden“ - jener vielstimmige Engelsgesang, nicht Marschmusik.
Wo jemand seine Kriegsparolen von ganz oben her zu legitimieren sucht, vom Gott
der Geschichte oder von der Geschichte als ihrem Gott, soll dieses göttliche
Friedenslied für uns Menschen gelten und unter uns Gestalt gewinnen.
Der große Friede aber kann nur werden, wenn er im Kleinen ausgesät wird. Der
große Friede kann beginnen, wenn eine im Anderen ihren Bruder erkennt. So wie
jene namenlose russische Lagerärztin aus dem vorhin verlesenen Brief, die, einer
inneren Stimme folgend, die deutschen Gefangenen bestmöglich zu versorgen
suchte.
Nicht den Feind im Anderen sah, sondern einen, der der Hilfe bedürftig war, was
immer sein - mörderisches - Werk vorher gewesen sein mochte.
Im Sommer 1983 auf Kreta hatten wir noch ein paar Tage auftrittfrei. Wir tollten
am Strand herum und gingen baden im kristallklaren Wasser. Irgendwann war mir
aufgefallen, dass ein paar alte Männer mit etwas Abstand zu uns am Strand saßen.
Jeden Tag wieder. Am Abend fragte ich den kretischen Bischof, der seine
bescheidene Unterkunft neben der Schule hatte, in der wir wohnten. „Bischof
Irenäus - die Männer da am Strand - was hat das zu bedeuten?“ Irenäus' Antwort:
„Sie haben sich verabredet, jeden Tag zum Strand zu kommen, um auf Euch
aufzupassen. Sie haben Angst, dass Euch in den Wellen etwas passieren könnte.
Sie wollen Euch beschützen und Hilfe rufen, wenn etwas passiert“.
„Wer ist mein Nächster?“ Die alten Männer hatten jener Generation angehört, die
nur knapp der Ermordung der deutschen Truppen entgangen sein konnten. Aber Sie
haben nicht den Hass in sich sprechen lassen. Sie ließen eine andere Stimme laut
werden: Die der Versöhnung und des achtsamen Miteinanders. Sie taten es für uns!
Und sie taten es für sich - weil sie nicht festgelegt bleiben wollten auf die
bittere Rolle der zu möglichen Opfern Gemachten.
Sie strahlten eine würdevolle Schönheit aus, die vom Frieden erzählt, der immer
möglich ist. Es liegt auch an uns. Es liegt immer auch an uns!
Amen.
Lied: Gib Frieden, Herr, EG 430
1. Gib Frieden, Herr, gib Frieden,
die Welt nimmt schlimmen Lauf.
Recht wird durch Macht entschieden,
wer lügt, liegt obenauf.
Das Unrecht geht im Schwange,
wer stark ist, der gewinnt.
Wir rufen: Herr, wie lange?
Hilf uns, die friedlos sind.
2. Gib Frieden, Herr, wir bitten!
Die Erde wartet sehr.
Es wird so viel gelitten,
die Furcht wächst mehr und mehr.
Die Horizonte grollen,
der Glaube spinnt sich ein.
Hilf, wenn wir weichen wollen,
und lass uns nicht allein.
3. Gib Frieden, Herr, wir bitten!
Du selbst bist, was uns fehlt.
Du hast für uns gelitten,
hast unsern Streit erwählt,
damit wir leben könnten,
in Ängsten und doch frei,
und jedem Freude gönnten,
wie feind er uns auch sei.
4. Gib Frieden, Herr, gib Frieden:
Denn trotzig und verzagt
hat sich das Herz geschieden
von dem, was Liebe sagt!
Gib Mut zum Händereichen,
zur Rede, die nicht lügt,
und mach aus uns ein Zeichen
dafür, dass Friede siegt.
Abkündigungen