Predigt am 19. Juli 2009 - zum Gedenken an den 20. Juli 1944
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Liebe Gemeinde,
darf man gegenüber einem Opfer der Nationalsozialisten das letzte Wort
behalten? Darf ich heute, 65 Jahre nach dem 20. Juli 1944 - als einer, der weder
die damalige Zeit noch all ihre verwirrenden, ängstigenden und beschämenden
Umstände kannte - darf ich heute über diesen so sehr persönlichen Brief von
Helmuth James Graf von Moltke sprechen?
Das ist mir persönlich wirklich mehr als eine rhetorische Frage.
Aber in dem ich weiß, dass es ein Brief eines von den Nazis Ermordeten ist,
in dem er Gedanken eines brutal zerstörten und in der Blüte der Jahre ermordeten
Lebens enthält - in dem es sich um einen solchen Brief handelt, sind wir nicht
gerade zu verpflichtet, davon zu reden, darüber sogar zu predigen - heute in
diesem Gottesdienst?
Damit eben nicht das Schweigen, das Mundtot-Machen der Nazis das letzte Wort
behält; nein, das käme mir wie ein zweiter Mord vor, also darum lasen wir den
Brief vorhin, darum reden wir darüber, darum dieser Gottesdienst und dieser
Predigt-Versuch.
Ich gestehe: Es ist keine leichte Aufgabe. Denn: bewegend ist dieser Brief,
anrührend seine Gedanken. Die Persönlichkeit eines Mannes, der für seine
Überzeugungen den Tod auf sich genommen hat – kommt uns in diesen Zeilen sehr
nah, geht unter die Haut.
Wir haben vorhin in dem kurzen, zusammengefassten Lebenslauf die Würdigung
Bischof Liljes gehört. Er schrieb bewundernd von der „ungebeugten Haltung
Moltkes aus Glauben“.
Ich finde, der Brief an Schwester Ida Hübner, die Diakonisse und
Gemeindeschwester, die seit 1907 in Kreisau und dort besonders in der
Kinderpflege wirkte, ich finde, dieser Brief ist genau für diese Glaubenshaltung
seines Verfassers ein bewegendes Beispiel.
Drei Monate vor seiner Hinrichtung, aber schon in dem festen Wissen darum,
dass diese ihn bedrohte, schrieb Moltke diesen fast schon testamentarisch
anmutenden Brief an die Gemeindeschwester: „Noch einen Wunsch habe ich an Sie,
liebe Schwester…“
Unter dem Eindruck des nahen Endes bleibt ihm – weiß Gott woher – noch die
Kraft, der Vertrauten manches Wort der Ermutigung und des Vertrauens auf den,
dessen Wege wunderbar sind und darum keiner Erklärung bedürfen.
Dem von Menschenhand gepeinigten Häftling ist über die Maßen wichtig – schon
das alleine berührt mich – dass Gottes Gedanken nicht unsere Gedanken sind und
sein können. Kein Hadern, keine Klage, kein Gefühl der Gottverlassenheit bekommt
in seinen Worten Raum.
Gegen Gott kennt er nur: Den Dank! „Er hat mich wunderbar durch diese Monate
der Prüfung geführt, die ich in vieler Hinsicht zu den reichsten meines Lebens
zähle“ …
Können wir das nachvollziehen? Könnte ich das so nachsprechen?
Ich bin mir sicher: Nein.
Können wir solche Glaubenskraft nachempfinden?
Ich denke, wir können es nicht, und das ist vielleicht auch gut so.
Ein anderer von den Nazis Umgebrachter, der Theologe Dietrich Bonhoeffer,
dessen großes Vertrauenslied auf die „guten Mächte“ wir nachher noch singen
werden - wissend, dass auch diese in der Gefangenschaft entstehen musste -
Dietrich Bonhoeffer hat einmal geschrieben: Gott gibt uns solche Kraft des
Glaubens nicht im Voraus, damit wir nicht hochmütig werden und uns nicht auf uns
selbst verlassen, sondern er gibt sie uns erst dann, wenn wir sie wirklich
brauchen – und dann sollen wir uns ganz und gar auf ihn verlassen.
Helmuth Moltke hat sich in einer Situation, in der ich eher von Verlassenheit
zu sprechen geneigt bin, sich nicht von Gott verlassen sondern getragen gewusst.
Ich kann diese Größe in meinem Glauben nicht finden. Und will doch versuchen
daran festzuhalten, was doch auch der Kern meines, ja des christlichen Glaubens
überhaupt ist: Gott ist seit dem Gott mit dem menschlichen Antlitz, Gott ist
seit diesem Jesus von Nazareth nicht mehr oder zumindest nicht mehr nur der
anständige Weltenschöpfer, von dem wir manchmal noch singen, dass er „alles so
herrlich regieret“; Gott ist vielmehr auch da, wo der Schatten des Kreuzes, des
Leides, der Gefangenschaft auf das Leben fällt, Gott knipst das Leiden der Welt
nicht einfach aus, lieber noch hält er es aus an der Seite seiner Mitgeschöpfe.
Gott hält sich nicht heraus aus Leiden, Schmerzen und Angst. Er durchlebt und er
durchkreuzt sie selber. ..
Dieser Glaube mag auch Helmuth Moltke getragen haben. Und in jedem Fall war es
dieser, der christliche Glaube, der ihn das Leben kostete.
In einem späteren Brief an seine Frau schreibt er, dass es im Prozess vor dem
Volksgerichtshof nicht um Organisationsfragen ging, nein, besprochen wurden
Fragen der praktisch-ethischen Forderungen des Christentums. Nichts weiter. Und
jetzt wörtlich: „Dafür allein werden wir verurteilt. Der Richter sagte zu mir in
einer seiner Tiraden: Nur in einem sind wir und das Christentum gleich: Wir
fordern den ganzen Menschen“.
Liebe Gemeinde, ein schrecklicher Irrtum des Richters. Sicher, das
Christentum erhebt auch Forderungen, Ansprüche, Zumutungen. Aber es hat auch
eine andere, mindestens ebenso wichtige Richtung: Und die heisst Freiheit.
„Zur Freiheit hat Euch Christus befreit“ sagt die Bibel, „lasst Euch nicht
wieder unter das Joch der Knechtschaft drücken“.
Und der Doktor aus Wittenberg hat schon 1520 die lutherische Lesart dieser
Freiheitsgedanken formuliert: Es ging ihm um die Freiheit, jedermann und
gleichzeitig niemandem untertan zu sein.
Und im Kreisauer Kreis ging es eben auch immer um das Thema der Freiheit.
Nicht um einen postmodernen, heutigen Freiheitsbegriff, der so oft leider Gottes
in Banalitäten sich ergießt, so nach der Melodie: „Die Freiheit nehm’ ich mir,
weil ich es mir wert bin“ – das sind abgeschmackte Werbeparolen der Süßwaren-
oder Kosmetik-Industrie.
Nein, es ging den Kreissauern nicht um eine Freiheit, die tut, was sie will,
sondern um eine Freiheit zur Verantwortung, um eine Freiheit, die so frei war,
sich zugleich gebunden zu wissen: Zum Beispiel an das Wohlergehen aller, nicht
nur meines eigenen…
Es ging in Kreisau auch um die Vision von einer neuen Gesellschaft in Europa,
um ein Miteinander von Intellektuellen und Arbeitern und um einen friedlichen
Weg der Völker miteinander.
Helmuth James Graf Moltke hat in unserem Brief ein biblisches Bild gebraucht,
um das, was er selber getan hat, zu beschreiben.
„(Aber) … ich bin wie ein stiller Sämann übers Feld gegangen und das eben
will man nicht. Den Samen aber, den ich gesät habe, der wird nicht umkommen,
sondern der Same kommt und wer ihn gesät hat.“
65 Jahre später sind viele Samenkörner aufgegangen, die der treue Säemann
damals gesät hat. Europa ist in vielen Teilen sehr viel freier geworden. In
vielen Ländern hat der Glaube an den Gott, der Gerechtigkeit und Freiheit für
alle will, viel zu dem heute erlangten Status beigetragen.
Im November werden wir an das deutsche Wunder vom Herbst 1989 denken und es
hoffentlich schaffen, dass auch unsere spätgeborenen Kinder sich mit uns wundern
über das, was geschehen ist und es nicht als gegeben hinnehmen.
Und: Vor wenigen Tagen ist ein polnischer Staatsbürger zum Präsidenten des
Europäischen Parlaments gewählt worden… Andererseits wird eine mutige
Journalistin, Natalja Estemirowa, kaltblütig ermordet. Noch ist längst nicht
allerorts die gute Saat aufgegangen…
Liebe Gemeinde,
die Erinnerung an eine ungebeugte Haltung aus Glauben, wie Helmuth Moltke sie
gezeigt hat, eine solche Erinnerung birgt Hoffnung. Und dieses Erbe macht Mut.
Und es kann ein Auftrag sein.
Wir dürfen uns in Dankbarkeit erinnern und uns dann an die Arbeit machen und
unseren Samen ausstreuen, dessen schönste Frucht Friede/Shalom wäre – und das
meint nicht nur die Abwesenheit von Krieg, sondern das meint Heil und
Wohlergehen für alle Menschen.
Amen.
…
Orgelmusik
Fürbittengebet – Vater unser
Großer, lebendiger Gott, du machst Menschen Mut zu diesem Leben
du lässt Menschen mit ihrer Hoffnung hinauswachsen über das was ist
du stehst Menschen bei, die - wie Helmuth Moltke und andere - nicht von dem
Glauben an Dich und die Freiheit eines Christenmenschen lassen konnten oder
können.
Wir denken in Dankbarkeit und Ehrfurcht an jene Menschen, die sich dem
deutschen Unrechts-Staat und seinen Schergen widersetzt haben,
wir bleiben bestürzt über die vielen, die für ihre Überzeugungen, für ihren
Glauben, für ihre Gedanken oder ihr unangepasst sein ermordet wurden.
In ihrem Geist, der aus Deinem guten und lebensschaffenden Geist entstand,
wollen wir versuchen, unser Miteinander zu gestalten.
Was wir dir sonst sagen wollen, bittet ein jeder, eine jede in der Stille
noch dazu…
Vater unser…
Lied: Von guten Mächten (D. Bonhoeffer 1944) EG 65
Segen
Orgelnachspiel