Presseberichte

Hamburger Abendblatt Journal

  • Hamburger Abendblatt "Kultur"
  • 7./8. Januar 2006

Wer kann denn das entziffern?

Historische Notizen und Aufzeichnungen sind ein spannendes Stück Geschichte — wenn man sie nur lesen könnte! Ein Kreis kundiger Ruheständler überträgt in der SÜTTERLINSTUBE Originaltexte in moderne Schrift.

von Christian-A. Thiel

Eigentlich wollte Dr. Peter Hohn, Physiker und Betriebswirt, im Ruhestand Geschichte studieren. Aber dies, fand er, „ist viel spannender: Geschichte von unten".
Die Aufträge kommen per Post. Dicke gefütterte Umschläge, frisch abgeliefert aus dem US-Bundesstaat Washington und aus den Niederlanden. Ihr Inhalt sind pralle Notizbücher und Briefe, Poesiealben und ganz persönliche Unterlagen, zum Beispiel gerade ein Kriegstagebuch aus dem Ersten Weltkrieg.
Die Dokumente haben eines gemein: ihre Erben können sie nicht mehr lesen, Denn sie sind in deutscher Schreibschrift verfaßt. Und weil die Nachfahren mehr über die Geschichte ihrer Familie erfahren wollen, schicken sie ihre Erbstücke aus aller Welt, von Australien bis Peru, nach Langenhorn zur „Sütterlinstube" am Reekamp.
Einmal in der Woche treffen sich hier, im Altenzentrum Ansgar, schriftkundige Ruheständler zum „Übersetzen" alter Papiere. 1992 ist die „Sütterlinstube“ entstanden, eigentlich, um die Senioren zu beschäftigen. Inzwischen hat sich die Sache verselbständigt. Schon rund 100 Frauen und Männer aus dem ganzen Norden haben sich an alte Dokumente gewagt, 20 gehören zum festen Kreis. „Wir sind kein Bund für die Entwicklung der deutschen Sprache", sagt Peter Hohn. „Uns geht es um die Inhalte. Und darum, alte Menschen aufzuwerten." Keiner von ihnen ist jünger als 60, viele sogar deutlich älter, Heinz Demmin (90) ist der Älteste. Hohn, Jahrgang 1937, koordiniert die Posteingänge und liest alle Texte zur Korrektur.
Der ehemalige Kaufmann Heinz Timmann etwa hat die Sütterlin-Schrift 1938 in der Schule gepaukt. „Ich kann sie noch lesen", sagt er. „Schreiben ist schon schwieriger. Aber es macht Spaß, etwas zu schaffen." Timmann ist als Mitglied im Deutschen Senioren-Computer-Club auf die Sütterlinstube aufmerksam geworden. Zuletzt übertrug er ein Wedekind-Gedicht. Da hieß es:
„Meine Augen möchten weinen
Aber, ach, die Thräne fehlt.
Armer Mann, so hast du keinen
Süßen Trost, der dich beseelt"...

Hamburger Abendbatt

Wer kann's noch lesen ? (von links) Barbara Sommerschuh, Heinz Timmann und Peter Hohn. Von ihnen übersetzte Zeitzeugenberichte wurden schon in Gottesdiensten einer Hamburger Gemeinde genutzt.
Foto: Stephan Wallocha


Barbara Sommerschuh (Jahrgang 1943), früher bei der Lufthansa, wollte in passiver Altcrsteilzeit „nicht von hundert auf null zurückfallen". Deshalb arbeitet sie seit April an alten Schriften, „Meine Mutter hat ihre Einkaufszettel in Sütterlin geschrieben", sagt sie. „So mußte ich die Schrift lernen." Als erste Übertragung wagte sie sich an das Kochbuch ihrer Großmutter.
Jedes Dokument — das älteste sind Verträge aus dem Jahr 1560 wird 1:1 übertragen, so wie es geschrieben ist, mit allen Fehlern. „Selbst wenn man sich eingelesen hat, sind Handschriften schwierig zu entziffern“, sagt Timmann. „Die Leute haben Kürzel benutzt, die heute niemand mehr kennt." Aus dem Altenzentrum selbst ist inzwischen nur noch eine Frau in der Runde, die ihre Dokumente handschriftlich überträgt. Alle anderen sitzen am Computer.
Im Schnitt ist eine Seite in gut 20 Minuten übertragene Oft muß die Lupe her, manchmal auch ein bißchen Phantasie, um krakelige Zeichen zu entziffern. Wenn es dann noch länger dauert, liegt es am Inhalt. Timmann erinnert sich an „fürchterliche 'Details", etwa aus Tagebüchern von KZ-Häftlingen. „Das ist so schlimm. Da darf man bei der Arbeit nicht nachdenken."
Ein großes Projekt dieser Tage sind die Aufzeichnungen eines deutschen Marineoffiziers, der es vom Geschwaderchef vor Samoa bis zum Admiral brachte. Ein geschichtlicher Bogen von den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts bis 1930, „ein spannendes Stück deutscher Kolonialgeschichte", wie Hohn sagt. Zu den interessantesten Dokumenten gehörten zuletzt auch
ein Kriegstagebuch aus Potsdam mit 2000 Seiten;
Akten des Auswärtigen Amtes von 1887 bis 1906 im Besitz eines Wissenschaftler aus Saloniki; ein Fluchtbericht von Königsberg über die Ostsee;
ein Reisebericht des Hofbaumeisters Georg Adolph Demmler, Erbauer des Schweriner Schlosses.
Manche Arbeiten haben Folgen. Ein Kalifornier fand das Tagebuch eines Großvaters, der Anfang 1900 aus der Schweiz in die USA eingewandert war. Heinz Timmann übertrug das Dokument, sein Schwiegersohn übersetzte es ins Englische: „Wir haben den Ort in der Schweiz ausfindig gemacht, dort wurde ein unbekannter Zweig der Familie mit 40 Verwandten entdeckt." Dieses Jahr gibt es ein Familienfest…
Die Übersetzer nehmen kein Geld für ihre Arbeit. Wer sich erkenntlich zeigen will, kann für das Altenzentrum Ansgar spenden. 2000 Euro eines Reedereichefs wurden in eine tragbare Liege investiert.
Übrigens: Falls Sie an einem Übertragungsprogramm für den Computer tüfteln — vergessen Sie's! Es würde nicht funktionieren. „Jede Handschrift", so Peter Hohn, „ist anders."

Aktuelle Beispiele für die Arbeit der Sütterlinstube:
Ausstellung über den Maler Louis Gurlitt (mit übertragenen Original-Briefen) vom 15,1. bis 28.2. im Husumer Rathaus.
Postanschrift: Reekamp 49-51 , 22415 HH
Internet: www.suetterlinstube.org


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