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    Nr. 19 Neue Kirchenzeitung vom 13. Mai 2018

    Wer kann heute noch Sütterlin lesen?

    Was die Vorfahren einst geschrieben haben, können junge Menschen heute kaum mehr entziffern. In Hamburg engagieren sich Senioren ehrenamtlich, um die in alter Schrift verfassten Dokumente in die lateinische Schrift zu transkribieren.
    VON MONIKA SENDKER

    Eine von ihnen ist Dr. Veronika Straub (74): Sie ist Mitglied in der Sütterlinstube Hamburg. Vor knapp einem Jahr war der ehemaligen stellvertretenden Direktorin der Katholischen Akademie Hamburg ein Zeitungsbericht über den gemeinnützigen Verein in die Hände gefallen, in dem erwähnt war, dass dringend Nachwuchs gesucht werde. Als Kind hatte Veronika Straub 1954 im Schönschreibunterricht in Erlangen die altdeutsche Schrift erlernt. Mein Onkel schrieb in Sütterlin, meine Mutter nutzte eine Mischschrift. Ich dachte: Ich probiere es mal aus, ob ich das noch lesen kann.“ Immerhin hatte sie im Germanistik- und Geschichtsstudium auch immer wieder mit historischen Quellen zu tun gehabt. Veronika Straub meldete sich beim Verein und erhielt als Übungstext ein medizinisches Gutachten zum Transkribieren. Die Übertragung gelang ihr auf Anhieb. Seither ist sie dabei.
    An verschiedenen Texten und Dokumenten hat sie seither schon mitgearbeitet. Sie hat mit Akribie und Spürsinn Gutachten, Familiendokumente, eine Firmenchronik, das Tagebuch eines deutschen Diplomaten aus den 30-er Jahren, ein Poesiealbumaus der Zeit um 1910, eine Schul- und Kirchenchronik aus dem 19.Jahrhundert für die Nachfahren lesbar gemacht. Berührt haben sie besonders die Feldpostbriefe: „Wenn man in einem Brief vom Ende des Zweiten Weltkrieges liest, wie jemand schreibt: ,Ich freue mich so sehr, endlich nach Hause zu kommen’, und weiß doch, dass der Schreiber noch im Krieg gefallen ist, dann geht einem das schon nahe.“
    Aus aller Welt erhält die Sütterlinstube Hamburg inzwischen Anfragen – aus den USA, Südamerika, Israel, sogar aus China. Vielfach sind es die Nachfahren deutscher Auswanderer und jüdischer Flüchtlinge, die alte Dokumente gefunden haben, Briefe, Tagebücher, Reiseberichte. Aber auch Familienurkunden, Chroniken, Kochbücher, historische Dokumente sind zu Büchern mit sieben Siegeln geworden. Denn wer kann heute noch Sütterlin lesen?
    Viele ältere Menschen können es noch. Aus diesem Gedanken heraus wurde 1996 im Altenzentrum Ansgar in Langenhorn die Sütterlinstube ins Leben gerufen. Seit 2009 ist der Verein gemeinnützig. Es sind nicht nur Lehrer, Juristen, Apotheker oder Bibliothekare, die in dem Verein mit geschultem Blick die altdeutschen Handschriften entziffern; unter den derzeit rund 58 Aktiven sind alle möglichen Berufe vertreten. Einmal wöchentlich treffen sich die Vereinsmitglieder in dem Altenzentrum am Reekamp. Dann tauschen die Mitglieder sich aus, geben erledigte Arbeiten ab und erhalten neue Aufträge. Die Arbeit ist ehrenamtlich: „Wir schreiben unsere Stunden auf, und die Auftraggeber dürfen spenden, wenn sie wollen“, erzählt Veronika Straub. Die Spenden gehen an soziale und kulturelle Projekte, ein Großteil kommt der Altenhilfe zu gute.

    Computererfahrung ist für diese ehrenamtliche Arbeit Voraussetzung, denn ein Großteil der zu transkribierenden Texte wird als PDF- oder Bild-Datei eingereicht und von den Mitgliedern zu Hause am Bildschirm bearbeitet. Die Schrift ist in jeder Handschrift auch für den kundigen Leser eine Herausforderung. „Die Buchstaben a, u, e und n sind oft kaum auseinander zu halten“, erzählt Veronika Straub. Dann ist detektivischer Ehrgeiz, Sprachgefühl, historisches Verständnis und Geduld erforderlich. „Wenn ich etwas gar nicht entziffern kann, kopiere ich die Wörter oder die Zeile und schicke sie per E-Mail an die anderen Mitglieder in der Hoffnung, dass sie es lesen können“, erzählt die frühere Dozentin. Sie ist mit viel Freude bei der Arbeit: „Ich löse gerne Rätsel, tüftele gerne, bin historisch interessiert, für mich ist das genau die richtige Aufgabe.“ Und sie lerne immer noch dazu – historische Maße und Gewichte zum Beispiel.
    Nicht immer sind die Ergebnisse der Arbeit allerdings zur reinsten Freude der Auftraggeber, weiß sie zu berichten: Auch manches Familiengeheimnis komme so schon mal ans Tageslicht. Details verrät Veronika Straub nicht – ihre Arbeit unterliegt der Schweigepflicht. Weitere Infos zur Sütterlinstube unter www.suetterlinstube.de

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