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  •  KarriereSPIEGEL vom 7. Mai 2012

Sütterlin - Übersetzer der vergessenen Schrift

Sütterlin

Links die Quelle, rechts das G:
Wer hätte gedacht, dass G und Q so ähnlich sein können?
Für Hannelore Faroß ist das selbstverständlich -
sie hat die Sütterlinschrift noch in der Schule gelernt.

Was hat eigentlich Opa im Krieg gemacht? Seine Tagebücher würden es verraten - wenn man sie nur entziffern könnte. Sütterlin ist zur Geheimschrift geworden, Transkribierer sind weltweit gefragt. Eine Hamburger Seniorengruppe hilft: mit USB-Stick und Rollator.

Das S ist störrisch. In "Keks" beginnt es links unten, macht einen Looping, schießt nach rechts oben, tropft in einer Rechtskurve aus. In "Kekse" wächst es bis auf die Größe eines Großbuchstabens an und rast dann senkrecht hinab bis in Tiefen, in die sonst nur j und y kommen. Hannelore Faroß, 79, macht an der Tafel vor, wie es geht.

Die Kreide hat sie selbst mitgebracht, den Plastikbeutel fischt sie aus ihrer Handtasche. Die hängt an ihrem Rollator, zusammen mit einer grellgelben Warnweste, damit Faroß auf dem Weg zum Unterricht nicht überfahren wird. Sieben Frauen und ein Mann, alle älter als 40, kritzeln ihr nach, mit Bleistift in Erstklässlerhefte: vier Linien pro Zeile, damit die Proportionen stimmen.

Faroß unterrichtet Sütterlinschrift an der Volkshochschule Norderstedt. Fünfmal zwei Stunden, dann können die Schüler schreiben wie ihre Vorfahren - und Tagebücher, Briefe oder Rezepte von Opa, Tante oder Uronkel lesen. Martina Petzold möchte ein Poesiealbum der Großmutter entziffern, Hans Baierlein alte Briefe. Jeder Schüler hier hat ein Erbstück zu Hause, das er nicht lesen kann.

"Bald lebt niemand mehr, der Sütterlinschrift in der Schule gelernt hat", sagt Hannelore Faroß. "Und wer soll dann die ganzen Zeitdokumente lesen?" Deshalb ist die pensionierte Sekretärin Lehrerin geworden, im Alter von 73 Jahren. Sie hat an einem Lehrbuch mitgearbeitet und bietet sogar einen Fernkurs an.

Briefe und Tagebücher aus aller Welt

140 Leute haben mit ihrer Hilfe schon Lesen und Schreiben der Sütterlinschrift gelernt, viele Ahnenforscher waren dabei, selbst aus Israel kamen Anfragen. Die bisher jüngste Schülerin war 13 Jahre alt. Ein schwieriger Fall, sagt Faroß: "Die neue Rechtschreibung und Sütterlin - das passt einfach nicht zusammen." Wörter mit "ss" am Ende gibt es nämlich in der alten Schrift nicht.

Faroß selbst war lange Zeit nicht klar, dass ihre Schriftkenntnisse etwas Besonderes sind. Dann las sie einen Aufruf im Videotext des NDR: Der Hamburger Verein Sütterlinstube such-te pensionierten Nachwuchs, um Schriftstücke von der deutschen in die lateinische Schrift zu übertragen - Lebensläufe, Grundbucheintragungen, Tagebücher, Briefe, Testamente.

Mehr als 1500 Aufträge haben Faroß und ihre Vereinskollegen in den vergangenen elf Jahren bearbeitet. Und jede Woche kommen neue Dokumente per Post oder E-Mail, aus allen Teilen Deutschlands, aber auch aus den USA, Mexiko, Brasilien oder Australien. Manchmal ist nur eine Seite zu transkribieren, manchmal ein ganzes Buch. Und nicht immer handelt es sich um Sütterlinschrift. "Aber wer das lesen kann, kann auch viele andere deutsche Schriften lesen", etwa Kurrent- oder Kanzleischrift, sagt Faroß. Das älteste Dokument, das die Sütterlinstube übertragen hat, ist eine Vermögensaufstellung aus dem Jahr 1550.

Das Finanzamt wundert sich

Einmal pro Woche treffen sich die 28 Vereinsmitglieder im Hamburger Altenzentrum Ansgar. Ein ehemaliger Schulleiter ist dabei, eine pensionierte Sozialarbeiterin, ein Facharzt für Innere Medizin, eine Chemie-Technikerin, ein Einzelhandelskaufmann im Ruhestand. Der Älteste ist über 90 Jahre alt, die jüngste Anfang 60. Manche kommen mit Stock oder Rollator, im Altenheim wohnt keiner von ihnen. Peter Hohn, pensionierter Physiker und Vorsitzender des Vereins, verteilt dort nur die Schriften und nimmt die Transkriptionen entgegen, viele haben ihre auf USB-Sticks gespeichert. Per E-Mail schickt Hohn sie zurück an die Auftraggeber.

Das Transkribieren alter Schriften ist ein lukratives Geschäft: Im Internet gibt es etliche An-bieter, die meisten verlangen fünf bis zehn Euro pro Seite. "Das können sich doch viele gar nicht leisten", sagt Faroß. Gerade Studenten seien mit solchen Preisen überfordert - und bräuchten oft dringend lateinische Fassungen alter Schriften. Die Sütterlinstube ist ein gemeinnütziger Verein. Peter Hohn und seine Mitstreiter arbeiten ehrenamtlich, nur um eine Spende bitten sie, die geben sie ans Altenheim weiter. Die Summe ist jedes Jahr so hoch, dass schon mehrmals das Finanzamt nachgefragt hat, was die Senioren denn da eigentlich treiben.

"Sch-ö-ne Bäu-me ste-hen am schö-nen S-ee", liest Martina Petzold vor. "An ei-nem Ta-nnen-bau-m ist Ta-nnen-baum-sch-mu-ck", macht ihre Sitznachbarin weiter, sie lacht. "Ihr sollt nicht immer über meine Sätze lachen, ist schwer genug", ruft Faroß. Für jede Unterrichtsstunde kreiert sie neue Sätze mit den Buchstaben, die ihre Schüler schon können. Das N haben sie zuerst gelernt, dann folgte das E, mittlerweile sind sie beim S, "dem schwierigsten Buchstaben", wie Faroß sagt. Das runde S steht immer am Ende eines Wortes oder vor Nachsilben wie -chen oder -haft, das lange S an allen anderen Stellen. Das S in Häschen sieht deshalb in Sütterlinschrift anders aus als das S in Hase.

Briefe von Täter und Opfer

Faroß hat ihren Unterricht streng getaktet: Leseübung, Diktat, Leseübung, Diktat. Dazwischen geht sie von Heft zu Heft und kontrolliert. "Das streichen Sie mal schnell durch", sagt sie bei der einen Schülerin, "was ist das denn?" bei der anderen. In der Sütterlinschrift sieht das E aus wie ein N, das H wie ein F, das U wie ein Ü. Beim Vorlesen kommt es leicht zu Verwechslungen, da werden Möwen aus Mägden und Hosen aus dem Hahn. "Nee", ruft Faroß dann laut, oder "niemals nich!"

Die Pausen nutzt sie, um von besonders schönen, lustigen oder erschreckenden Aufträgen aus der Sütterlinstube zu erzählen. Diesmal berichtet sie von den Postkarten eines jungen Pärchens aus Ungarn. Für jeden Schreibfehler verlangte der Geliebte einen Kuss. Und beschwerte sich dann auf der nächsten Karte, dass ihre Orthografie zu gut sei.

Die zweite Anekdote ist weniger amüsant: Faroß transkribierte die Briefe eines Propaganda-Offiziers aus dem "Dritten Reich". Dessen Sohn, ein Englischprofessor aus Philadelphia, hatte sie aus den USA an die Sütterlinstube geschickt - und erfuhr durch die Transkription zum ersten Mal Einzelheiten über das Leben seines Vaters während des Nationalsozialismus.

Der deutsche Professor in Philadelphia ist mit dem Sohn einer Holocaust-Überlebenden befreundet, der ebenfalls Briefe der Mutter besitzt. Die beiden setzten sich zusammen, kreierten schließlich ein Theaterstück, für das sie 2008 bei den Hamburger Kammerspielen auf der Bühne standen. "Ich habe eine Hochzeit sausen lassen, um bei der Premiere dabei zu sein", sagt Faroß. Denn letztlich zähle ja nicht die Schrift, sondern die Geschichte, die sie erzählt.

Autorin Verena Töpper ist KarriereSPIEGEL-Redakteurin.

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