ALF: Die Franzosen begreifen durchaus, dass mit uns der Schwung der Idee ist, dass wir gesund sind und über Politiker und Geldmenschen wie Reynaud und Mandel siegen mussten. In der Normandie schreibe ich nun weniger, stattdessen lenke, führe, verführe, intrigiere und irreführe ich, um der französischen Querströmung pressemäßig zu begegnen. Ich verhandle mit Direktoren, mit hohen Geistlichen, ich mache viele Zeitungen Papierkorb reif, fördere wenige Tageszeitungen, spiele sie gegeneinander aus. Kurz, es ist maßlos interessant.
Politisch ist sehr viel los, immer mehr französische Aktivisten kommen auf den Plan und helfen unserer Sache. Du weißt wie ich, dass die rote Pest geschlagen werden muss, und mit ihr die Goldkönige [sein Codewort für Juden].
LILY: Der Kontakt mit unseren Müttern war abgebrochen, als wir in
Neapel im Gefängnis saßen. Wir hatten keine Zeitung. Alles, was wir
wussten, war, dass der Krieg weiterging. Das Seltsame war, dass Mutter
ihre letzten paar Postkarten alle mit „AMEN” beendete. Es beunruhigte
mich, aber ich hatte keine Erklärung dafür. Eines Tages kam ein Brief
von einer gütigen Freundin, die uns wissen ließ, meine Mutter sei auf
„Urlaub” wie so viele ihrer Freunde.
„Urlaub!“ Jetzt verstanden wir: Sie brachten die Juden in
Konzentrationslager. Als ich die Karte gelesen hatte, begann ich zu
zittern. Ich konnte meine Arme und Beine nicht beherrschen und nicht
zusammenhängend sprechen
Ironischerweise war es Alf, der deutsche Propaganda-Offizier, der einst viele einflussreiche Franzosen für die „Deutsche Idee“ gewinnen wollte, der später das Resultat dieser Ideen mit ansehen musste: Während einer Massen-Hinrichtung in Russland, deren Zeuge er als Kriegsberichterstatter wurde. Danach wollte er, der sich ganz dem „Führer“ verschrieben hatte, nicht mehr sprechen und verlor sogar den Willen, weiter zu leben. In einem der letzten Briefe an meine Mutter ging dem jungen „Dritte-Reich-Faustus“ auf, dass er seinen Pakt mit der falschen Partei gemacht hatte:
ALF: Lies mehr als meine Buchstaben, lies, was ich nicht schrieb, lies was mein Herz zerspringen lassen möchte.
Das Schweigen der jüdischen Großmutter in Minsk wirkt wie ein Echo auf Alf’s Schweigen anlässlich seines letzten Besuches zu Hause, bevor er, im Sommer 1944 im Alter von 31 Jahren in Russland fiel.
Hinein gewoben in das Thema, sich harter Realitäten zu stellen, ist Lilys lebenslängliches Schuldgefühl, nicht genug getan zu haben, um ihre Mutter zu retten.
Beide, Alf und Lily, werden von ihren Gefühlen überschüttet und erkennen, dass es zu spät ist. Und trotz all dieser ungeheuerlichen Erfahrungen stehen jetzt ihre beiden Söhne zusammen auf einer Bühne – die Söhne von Kain und Abel – indem beide die Rolle ihrer Eltern übernehmen, sogar in der zweiten Hälfte des Stücks die Rollen tauschen, sich umarmen, in dem Wissen, dass wir aufmerksam sein müssen, damit sich etwas wie die „Kristallnacht“ nie wieder ereignet.
Jüdisch-Christliche Kooperation in Hamburg/Deutschland
Die verschiedenen Aufführungen – finanziell unterstützt durch die Sütterlinstube unter der Leitung von Dr. Peter Hohn, und die Jüdische Gemeinde Hamburg, unter der Leitung vom Vorstandsvorsitzenden Ruben Herzberg, einem Schulleiter und dem Nahost-Leiter der Schulbehörde des Hamburger Senats in der er, u.a. Treffen zwischen jüdischen und palästinensischen Organisationen organisiert – führt auch zu einer Aufführung in der früheren Talmud-Thora-Schule im Beisein von Schülern verschiedener Schulen am Morgen des 10. November, sowie zu einer Abschiedsaufführung im Walddörfer-Gymnasium am Abend des 10. November.
Die erste Aufführung am 8. November wird im Gemeindesaal der Ansgar-Kirche am Wördenmoorweg stattfinden. In der Ansgar Kirche wurde nach ihrer Fertigstellung 1930 vom damaligen Kirchenvorstand abgelehnt, ein Altar-Triptychon von Anita Rée aufzuhängen. Diese Künstlerin war zwar christlich getauft worden, war aber gebürtige Jüdin. Aus dem Verband Hamburger Künstler ausgeschlossen, beging sie 1933 Selbstmord.
Pastor Tobias Götting, heute Pastor an der Ansgar-Kirche, organisiert seit Jahren Gedenkgottesdienste für die Opfer des Nationalsozialismus. Die Aufführung des Tickenden Metronoms findet in unmittelbarer Nachbarschaft der Kirche statt, in der heute Reproduktionen der Bilder Anita Rées hängen, deren Originale damals nicht aufgehängt wurden und dann mutmaßlich an ihrem Aufbewahrungsort verbrannten.
Die Gesänge während der Aufführung, in Deutsch, Englisch, Französisch und Hebräisch gesungen, interpretiert Hanna Wehner aus Krefeld. Ihr Vater, während des 2. Weltkriegs Posthilfsarbeiter in Celle, kam täglich am Konzentrationslager Bergen-Belsen vorbei und warf heimlich Essen und Kleidung über den Zaun, bis seine Frau ihm mit Scheidung drohte, weil nur wenig für die eigene Familie geblieben war. So fragte er dann seine Kollegen um Gaben für die Häftlinge, konnte seine Hilfe so fortsetzen – bis er nach Russland eingezogen wurde, wo er im Krieg als junger Mann fiel, so wie mein Vater.
Das tickende Metronom endet mit einem Versöhnungslied von Aryeh Hirschfield, in Englisch und Hebräisch gesungen, gefolgt von dem Lied „Hevenu shalom alechem“ – „Wir wünschen Frieden Euch allen“, zunächst zögerlich vorgetragen, dann immer fröhlicher werdend und alle Zuschauer zum Mitsingen einladend.
So endet dieses Drama, das die Zuschauer ermutigt, sich gegenseitig in aller Unterschiedlichkeit zu respektieren und zugleich sich bewusst zu machen, dass es sicherlich viel mehr gibt, was uns verbindet als das, was uns trennt.
Der Sohn eines jüdischen Insassen eines Konzentrationslagers und der Sohn eines deutschen Propaganda-Offiziers während des Dritten Reiches, die in Philadelphia Freunde wurden, werden nebeneinander auf der Bühne der Hamburger Kammerspiele stehen – mitten im ehemaligen jüdischen Viertel Hamburgs, der Heimatstadt von Alf Eger, mit dem Ticken des Metronoms, dem Ticken des eigenen Gewissens, selbst heute, 70 Jahre nach dem schrecklichen Ereignis des 9 November 1938.
Mögen wir alle auf unsere innerste Stimme hören und entsprechend handeln. Mögen wir immer für einander da sein.
Henrik Eger, Ph.D.
Dr. Henrik Eger, Professor of English and Communication at DCCC, Media, PA; Nobel Friedenspreis Post-Übersetzer für Martin Luther King, Jr.; Vorstandsmitglied, Theatre Ariel, das jüdische Theater von Philadelphia; Dramatiker (Mendelssohn does not live here anymore); und Philadelphia Korrespondent für AAJT, die weltgrößte Webseite für jüdisches Theater
Professor Eger schreibt selbst zur Entstehungsgeschichte des Stücks und zur Ankündigung der Hamburger Aufführungen:
Der Sohn einer Überlebenden des Holocaust und der Sohn eines Propaganda-Offiziers aus dem Dritten Reich gemeinsam auf der Bühne: Das tickende Metronom – Weltpremiere in deutscher Sprache
Das tickende Metronom ist ein brutal-ehrliches und doch bewegendes und versöhnendes Drama. Das weltweit einzige Theaterstück, in dem der Sohn eines Überlebenden eines Konzentrationslagers und der Sohn eines Hamburger Propaganda-Offiziers und Kriegsberichterstatters nebeneinander auf einer Bühne stehen. Die deutsche Erstaufführung findet statt am 9. November 2008 um 11 Uhr im Logensaal der Hamburger Kammerspiele in der Hartungstrasse, eine Voraufführung gibt es am Abend des 8. November 2008 im Gemeindesaal der Ev. Luth. Kirchengemeinde Ansgar in Hamburg-Langenhorn, am Wördenmoorweg 22 um 19 Uhr.
Diese Aufführungen finden statt im Rahmen vieler Gedenkveranstaltungen, mit denen der systematischen Zerstörung von Synagogen und der Übergriffe auf Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland und Österreich am 9. November 1938 gedacht wird - und der danach in noch größerem Maße begonnenen Deportationen in die Konzentrationslager.
Geheimnisse des Dritten Reiches aufdecken
Das tickende Metronom entstand, als ich meine Mutter in Deutschland bat, mir die handgeschriebenen Texte meines Vaters zuzusenden, die dieser während der Zeit des Nationalsozialismus in Form von täglichen Notizen hinterlassen hatte.
Ich wusste von vielen Kontakten, dass mein Vater, Ernst-Alfred Eger, genannt Alf, als ein lebendiger, hoch talentierter junger Schriftsteller galt, der vor dem zweiten Weltkrieg als Auslandskorrespondent in London arbeitete, später Propaganda-Offizier im besetzten Frankreich als Leiter der Presse in Cherbourg und im Westen Frankreichs war und danach als Kriegsberichterstatter in Russland tätig war – aber das war auch alles.
Ich hatte keine Ahnung einer Verwicklung meines Vaters in den Nationalsozialismus, geschweige denn von der Arbeit meiner Mutter, die immer wieder abstritt, irgendetwas gewusst zu haben.
Allerdings sagte sie mir in jungen Jahren, dass sie mir die vielen Tagebücher meines Vaters geben würde, wenn ich alt genug dafür sein würde. Als junger Student nahm ich eines Tages eins seiner Tagebücher, vergaß es aber im Laufe der Zeit. Als ich es viele Jahre später fand und öffnete, entdeckte ich einen Eintrag, in dem mein Vater voller Stolz eine Begegnung mit einem Priester in der Rektorei beschrieb, in der ihm der Geistliche begeistert erzählte, dass er schon seit vielen Jahren Mitglied der NSDAP war.
In dem Moment wuchs mein Verdacht, dass jene Tagebücher noch mehr Informationen enthalten könnten, die ein Licht werfen könnten auf den dunkelsten Teil deutscher Geschichte. Ich bat daher meine Mutter, mir die Tagebücher meines Vaters zu schicken und fügte hinzu, dass ich Ausschnitte daraus veröffentlichen wollte.
Bis heute bedaure ich diesen Zusatz, denn meine Mutter nahm alle Texte meines Vaters und brachte sie zu einer Müllverbrennungsanlage. Ich war so bestürzt darüber, dass ich kaum noch mit ihr sprechen konnte.
In dem Wunsch, ein Stück über all diese verbrannten Geheimnisse zu verfassen, durchsuchte ich alte Fotoalben, die meine Mutter mir Jahre zuvor gegeben hatte. Zwischen den über 20 Fotoalben fand ich ein halbes Dutzend großer Bücher mit handgeschriebenen Liebesbriefen, die mein Vater ihr geschrieben hatte und welche meine Mutter zum Glück längst vergessen hatte. Später entdeckte ich auch, dass mein Vater sich oft dazu äußerte, wie wichtig ihm seine täglich geführten Tagebucher seien.
Rettung wichtiger Texte vor dem Vergessenwerden
Da ich die alte Sütterlin-Handschrift nicht entziffern konnte, war ich glücklich, die Sütterlinstube in Hamburg zu finden, eine Organisation, die alte Briefe, Tagebücher und andere Dokumente in die heutige übliche Schrift überträgt und die so „übersetzten“ Texte an den Absender über den Computer zurücksendet – an Leser innerhalb Deutschlands, aber auch an Klienten so weit entfernt wie Israel oder die USA.
Die ehrenamtlichen Mitarbeiter der Sütterlinstube unter der Leitung von Dr. Peter Hohn, die schon vorher Dokumente von Überlebenden des Holocaust übertragen hatten, transkribierten mit großer Sorgfalt die 500 Briefe, die mein Vater aus dem besetzten Frankreich an meine Mutter gesandt hatte – ungefähr 2000 Seiten.
Sobald jene Texte per E-Mail bei mir in Philadelphia ankamen, konnte ich nicht aufhören, sie zu lesen – hin und her gerissen zwischen höchst originellen und lustigen Passagen, über dich ich laut lachen konnte, und dann, gleich daneben, erschütternden Stellen, die mich weinen ließen, in denen es darum ging, Europa „frei von dem Juden“ zu machen oder wie mit „gemischt-rassigen“ Menschen umzugehen wäre.
Deutsch-Jüdische Kooperation in Philadelphia/USA
Alfred Spitz, Fredl genannt, ein österreichischer Jude, war nach Dachau und später nach Buchenwald verschleppt worden. Bob’s junge Mutter, Lily Spitz, nach bösen Erfahrungen beim Gestapo-Hauptquartier in Wien, erreichte es, Fredl aus dem Konzentrationslager zu bekommen, gerade noch rechtzeitig, um den letzten Zug aus Österreich zu nehmen, bevor die Grenzen wegen des 2. Weltkriegs geschlossen wurden. Nach schlimmen Jahren, meistens auf der Flucht, überlebte die kleine Familie und kam in die USA, wo Lily später ihre Memoiren schrieb.
Als ich diese tief bewegenden Erinnerungen gelesen hatte, wusste ich, dass ich mein Stück ändern musste und darin die Memoiren der Überlebenden und die persönlichen Notizen meines Vaters zusammen verarbeiten würde.
Viele Monate der Sichtung und Übersetzung der Texte ins Englische führten schließlich zur ersten Aufführung des Dokudramas Metronome Ticking. Sie fand statt am 9. November 2006 in Gegenwart einiger Überlebender des Holocaust.
Mehrere Aufführungen in Synagogen folgten, bei denen viele Zuhörer tief berührt waren und weinten und uns anschließend viele Fragen stellten – gefolgt von vielen Umarmungen.
Im Herzen der Dunkelheit
Das tickende Metronom macht deutlich, wie Sprache benutzt werden kann, um etwas zu verbergen: Alf manipuliert durch Zensur der Presse im besetzten Frankreich, während Lily’s Mutter versucht, einen Weg an der deutschen Zensur vorbei zu finden, die den Insassen eines Todescamps nahe Minsk auferlegt war, z.B. keine Details, und doch ihre eigene Exekution vorausahnend mit dem einen Wort „Amen“ mit dem die Mutter ihre Post beendete.