Metronome ticking

Pressenotiz

Von Henrik Eger

ALF: Die Franzosen begreifen durchaus, dass mit uns der Schwung der Idee ist, dass wir gesund sind und über Politiker und Geldmenschen wie Reynaud und Mandel siegen mussten. In der Normandie schreibe ich nun weniger, stattdessen lenke, führe, verführe, intrigiere und irreführe ich, um der französischen Querströmung pressemäßig zu begegnen. Ich verhandle mit Direktoren, mit hohen Geistlichen, ich mache viele Zeitungen Papierkorb reif, fördere wenige Tageszeitungen, spiele sie gegeneinander aus. Kurz, es ist maßlos interessant.

Politisch ist sehr viel los, immer mehr französische Aktivisten kommen auf den Plan und helfen unserer Sache. Du weißt wie ich, dass die rote Pest geschlagen werden muss, und mit ihr die Goldkönige [sein Codewort für Juden].

LILY: Der Kontakt mit unseren Müttern war abgebrochen, als wir in Neapel im Gefängnis saßen. Wir hatten keine Zeitung. Alles, was wir wussten, war, dass der Krieg weiterging. Das Seltsame war, dass Mutter ihre letzten paar Postkarten alle mit „AMEN” beendete. Es beunruhigte mich, aber ich hatte keine Erklärung dafür. Eines Tages kam ein Brief von einer gütigen Freundin, die uns wissen ließ, meine Mutter sei auf „Urlaub” wie so viele ihrer Freunde.
„Urlaub!“ Jetzt verstanden wir: Sie brachten die Juden in Konzentrationslager. Als ich die Karte gelesen hatte, begann ich zu zittern. Ich konnte meine Arme und Beine nicht beherrschen und nicht zusammenhängend sprechen

Ironischerweise war es Alf, der deutsche Propaganda-Offizier, der einst viele einflussreiche Franzosen für die „Deutsche Idee“ gewinnen wollte, der später das Resultat dieser Ideen mit ansehen musste: Während einer Massen-Hinrichtung in Russland, deren Zeuge er als Kriegsberichterstatter wurde. Danach wollte er, der sich ganz dem „Führer“ verschrieben hatte, nicht mehr sprechen und verlor sogar den Willen, weiter zu leben. In einem der letzten Briefe an meine Mutter ging dem jungen „Dritte-Reich-Faustus“ auf, dass er seinen Pakt mit der falschen Partei gemacht hatte:

ALF: Lies mehr als meine Buchstaben, lies, was ich nicht schrieb, lies was mein Herz zerspringen lassen möchte.

Das Schweigen der jüdischen Großmutter in Minsk wirkt wie ein Echo auf Alf’s Schweigen anlässlich seines letzten Besuches zu Hause, bevor er, im Sommer 1944 im Alter von 31 Jahren in Russland fiel.

Hinein gewoben in das Thema, sich harter Realitäten zu stellen, ist Lilys lebenslängliches Schuldgefühl, nicht genug getan zu haben, um ihre Mutter zu retten.

Beide, Alf und Lily, werden von ihren Gefühlen überschüttet und erkennen, dass es zu spät ist. Und trotz all dieser ungeheuerlichen Erfahrungen stehen jetzt ihre beiden Söhne zusammen auf einer Bühne – die Söhne von Kain und Abel – indem beide die Rolle ihrer Eltern übernehmen, sogar in der zweiten Hälfte des Stücks die Rollen tauschen, sich umarmen, in dem Wissen, dass wir aufmerksam sein müssen, damit sich etwas wie die „Kristallnacht“ nie wieder ereignet.

Jüdisch-Christliche Kooperation in Hamburg/Deutschland

Die verschiedenen Aufführungen – finanziell unterstützt durch die Sütterlinstube unter der Leitung von Dr. Peter Hohn, und die Jüdische Gemeinde Hamburg, unter der Leitung vom Vorstandsvorsitzenden Ruben Herzberg, einem Schulleiter und dem Nahost-Leiter der Schulbehörde des Hamburger Senats in der er, u.a. Treffen zwischen jüdischen und  palästinensischen Organisationen organisiert –  führt auch zu einer Aufführung in der früheren Talmud-Thora-Schule im Beisein von Schülern verschiedener Schulen am Morgen des 10. November, sowie zu einer Abschiedsaufführung im Walddörfer-Gymnasium am Abend des 10. November.

Die erste Aufführung am 8. November wird im Gemeindesaal der Ansgar-Kirche am Wördenmoorweg stattfinden. In der Ansgar Kirche wurde nach ihrer Fertigstellung 1930 vom damaligen Kirchenvorstand abgelehnt, ein Altar-Triptychon von Anita Rée aufzuhängen. Diese Künstlerin war zwar christlich getauft worden, war aber gebürtige Jüdin. Aus dem Verband Hamburger Künstler ausgeschlossen, beging sie 1933 Selbstmord.

Pastor Tobias Götting, heute Pastor an der Ansgar-Kirche, organisiert seit Jahren Gedenkgottesdienste für die Opfer des Nationalsozialismus. Die Aufführung des Tickenden Metronoms findet in unmittelbarer Nachbarschaft der Kirche statt, in der heute Reproduktionen der Bilder Anita Rées hängen, deren Originale damals nicht aufgehängt wurden und dann mutmaßlich an ihrem Aufbewahrungsort verbrannten.

Die Gesänge während der Aufführung, in Deutsch, Englisch, Französisch und Hebräisch gesungen, interpretiert Hanna Wehner aus Krefeld. Ihr Vater, während des 2. Weltkriegs Posthilfsarbeiter in Celle, kam täglich am Konzentrationslager Bergen-Belsen vorbei und warf heimlich Essen und Kleidung über den Zaun, bis seine Frau ihm mit Scheidung drohte, weil nur wenig für die eigene Familie geblieben war. So fragte er dann seine Kollegen um Gaben für die Häftlinge, konnte seine Hilfe so fortsetzen – bis er nach Russland eingezogen wurde, wo er im Krieg als junger Mann fiel, so wie mein Vater.

Das tickende Metronom endet mit einem Versöhnungslied von Aryeh Hirschfield, in Englisch und Hebräisch gesungen, gefolgt von dem Lied „Hevenu shalom alechem“ – „Wir wünschen Frieden Euch allen“, zunächst zögerlich vorgetragen, dann immer fröhlicher werdend und alle Zuschauer zum Mitsingen einladend.

So endet dieses Drama, das die Zuschauer ermutigt, sich gegenseitig in aller Unterschiedlichkeit zu respektieren und zugleich sich bewusst zu machen, dass es sicherlich viel mehr gibt, was uns verbindet als das, was uns trennt.

Der Sohn eines jüdischen Insassen eines Konzentrationslagers und der Sohn eines deutschen Propaganda-Offiziers während des Dritten Reiches, die in Philadelphia Freunde wurden, werden nebeneinander auf der Bühne der Hamburger Kammerspiele stehen – mitten im ehemaligen jüdischen Viertel Hamburgs, der Heimatstadt von Alf Eger, mit dem Ticken des Metronoms, dem Ticken des eigenen Gewissens, selbst heute, 70 Jahre nach dem schrecklichen Ereignis des 9 November 1938.

Mögen wir alle auf unsere innerste Stimme hören und entsprechend handeln. Mögen wir immer für einander da sein.

Henrik Eger, Ph.D.

Dr. Henrik Eger, Professor of English and Communication at DCCC, Media, PA; Nobel Friedenspreis Post-Übersetzer für Martin Luther King, Jr.; Vorstandsmitglied, Theatre Ariel, das jüdische Theater von Philadelphia; Dramatiker (Mendelssohn does not live here anymore); und Philadelphia Korrespondent für AAJT, die weltgrößte Webseite für jüdisches Theater

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